Lesung Literaturhaus Köln 2005 / Gladbeck 84


Einladung des Literaturhauses Köln  Lesung am 26. September 2005

Gedichte von Annemarie Schnitt irische Musik von Conny Schnitt
Fotografien von Berni Patten

Liebe Freunde des Literaturhauses:

Es gehört zu den Merk-Würdigkeiten der Literatur, dass Dichter zahlreichen Lesern "Lebenshilfe" spenden und "dass man sich immer wieder ihrer Werke bedient, um sich aus eigenen Wirren und Verwirrungen herauszuarbeiten". Diese Beobachtung des Literaturwissenschaftlers Richard Exner lässt sich auf die Gedichte von Annemarie Schnitt übertragen, die wir Ihnen heute Abend im Literaturhaus vorstellen möchten.

"Mir ist die Lächerlichkeit, Gedichte zu schreiben lieber als die Lächerlichkeit, keine zu schreiben." Dieser Vers der polnischen Nobelpreisträgerin Wislawa Simborska ist für die 1925 in Tungkun (Süd-China) geborene Annemarie Schnitt Ansporn und Herausforderung zugleich. In ihren Gedichten und Prosaskizzen versteht sie das Schreiben als "Fliegen / deutlicher Dinge deuten / aus der Distanz". In ihren Gedichtzyklen finden sich sowohl poetische Betrachtungen über die Veränderung der Natur im Ablauf des Jahres wie auch Annährungen an große literarische Vorbilder wie Rose Ausländer und Else Lasker-Schüler.

Die Lesung von Annemarie Schnitt, die um 20.00 im Literaturhaus beginnt, wird begleitet von irischer Geigenmusik, gespielt von Annemarie Schnitts Tochter Conny sowie illustrierenden Fotos zu einzelnen Texten.

Wir würden uns freuen, Sie zu einem sicher stimmungsvollen Abend im Literaturhaus begrüßen zu dürfen.
Bettina Fischer - Thomas Böhm





Musik von Conny Schnitt - Fotografie von Bernie Patten


Wozu schreiben?

Gedanken festzuhalten
im Vers
eh sie verfliegen

Farben aufzufangen
in Metaphern
eh sie verblassen

Liebe zu beschwören
im Wort
eh sie verweht

Leben fortzudenken
in Reimen
eh es verdunkelt



Guten Abend!

Ich begrüße Sie und Euch Freunde zu dieser kleinen Lesung, zu der ich freundlich überredet wurde! Heute freue ich mich und bedanke mich für diese Einladung! Nun sitze ich hier und frage mich wieder einmal neu: Wozu schreiben?

Wozu Gedichte schreiben, Worte in Rhythmus und Versmaß bringen?
Mir fallen da ein paar Zeilen der polnischen Lyrikerin und Nobelpreisträgerin Wislawa Simborska ein, die sagt:
Mir ist die Lächerlichkeit, Gedichte zu schreiben lieber als die Lächerlichkeit, keine zu schreiben.

Poesie grenzt an Magie. Sie verzaubert, sie entführt,das zweite Ich zu entdecken. In Gedichten kommt es zu einer Verschmelzung von Denkbarem und Fühlbarem. Du tauchst ab, gerätst ins Schweben, in einen Zustand der Distanz, der deinem inneren Auge die Welt neu erschließt. Es gibt Steine, aus denen du Feuer schlagen kannst. Poesie, glaube ich, ist solch ein Stein.

Das Gedicht … so Oktavio Paz, fordert die Abschaffung des Dichters, der es schreibt, und die Geburt des Dichters, der es liest, (der es hört). In diesem Sinne möchte ich beginnen - zum Anfang mit einem Gedicht, mit dem mein Enkel bei einer Geburtstagslesung vor drei Jahren den Auftakt machte:



Schritte durch ein Jahr

Der eine kriecht-
der andere schreitet-
einer wankt-
ein nächster gleitet-
der fünfte trippelt-
der sechste stelzt-
ein siebter
durch die Welt sich wälzt-
der achte fliegt ganz
federleicht vondannen
bedenke dies und sag dir leise:
ein jeder Mensch auf seine Weise
kommt schließlich doch zum Ziel der Reise



Wandel der Jahreszeiten

immer ein Stück
sich selbst voraus sein
auf den Wegen voran
Wandlungen begegnen
wie Freunden
Veränderungen begrüßen
wie den Wandel der Jahreszeiten
dem Rhythmus
dem Kreis nachspüren
dem Lauf der Flüsse ins Meer






Frühling

ein Ahnen
wie Vorfreude auf Neues
aufgetaut dein Winterherz
wie es vibriert
in weicher Luft
warm durchpulst
vom Glück des Kommenden



Ein neues Lied

so viele Lenze
und wieder Saft
in den Zweigen
den Taktstock
des Frühlings
leih ich mir
für ein neues Lied



Frühling

nah am Tor
noch entblättert
die Trauerbirke
zurückgedrängte Kraft
in zitternden Zweigen
zurückgedrängtes Feuer
im stummen Stamm

es wird ein Gesang
besiegen den Frost
es wird ein Gestirn
entfachen ein Feuer
in Stamm und Geäst
es wird ein Frühling
vertreiben die Trauer



Im Mai

abgeholt von der Sonne
zum Lauf in den Tag
leicht und sicher
an ihrer warmen Hand
unter ihrem Blick
singen die Vögel in dir
die wintertasgs verstummten
Verblasstes blüht auf
Verdunkeltes lichtet sich
Lautes wird leise
Unstimmiges stimmig
für einen Tag Hand-in-Hand
mit der Sonne im Mai






Sommer

den Sommer
anwachsen lassen
über der Stirn

was brach liegt
zum Blühen bringen
in neuem Licht

vielleicht möcht
ein einziges Wort
auferstehen

zum Leben
unter dem Himmel
dem einzigen



Noch ist Sommertag

und offen der Himmel
die Luft voller Samen
und süßem Duft
in den Feldern der Mohn
in den Gärten Margriten
am Steilhang
zwischen Moos
mein kleines Gedicht

noch ist Sommertag
und offen der Himmel
es dreht sich der Drachen
lautlos im Wind
der Surfer spannt den Flügel
zum Flug über Fluten
am Spinnennetz spinnt
mein kleines Gedicht

noch ist Sommertag
und offen der Himmel
es atmet die Erde
ganz arglos im Traum
was tun wenn durch Menschen
Zerstörung einbricht
Taubenflügel wünsch ich
meinem kleinen Gedicht



Rosenzeit

zur Feier des Tages
eine Rose für dich
dass dein Lachen
sich unverloren verliert
in farbenberedte
Sprachlosigkeit



Den Sommer bannen

Den Sommer bannen
in einen letzten Augenblick der Wärme
ihn schmecken wie Glück
ihn speichern unter der Haut
als Vorrat gegen Fröste
Entfaltete Flügel

was bleibt von alledem
vom Gesang des Sommers
vom tete à tete mit dem Glück
von den Farben der Freundschaft
was bleibt von alledem
vom Tag-Traum und Nacht-Gespinst

von den Schüben des Schicksals

nichts bleibt
im Verbleiben am Fleck
alles bleibt in der Kraft
entfalteter Flügel






Etwas gegen den Wind setzen

etwas Helles gegen die Nacht
etwas Festes gegen den Schwindel
etwas Klingendes gegen die Leere

einen Traum gegen den Tag
eine Insel gegen den Lärm
eine Rose gegen den Winter

ein Tun gegen das Chaos
ein Gedicht gegen die Sprachlosigkeit
Gebete gegen den Stumpfsinn

etwas gegen den Wind setzen



Herbst

Nebelschwaden
über dem Strand
ich such im Windlicht
meinen Weg
hab noch Sand
in Hosentaschen
hab ein Lied
dass weiterträgt
Sonnenblume

ich möcht
mit deiner Sprache sprechen
ich möcht mit deinem Blühen blühn

ich möcht
mit deinem Lachen lächeln
ich möcht mit deiner Farbe färben

trüber Tage Nebelkleid



Nebeltag

Schritte im Nebel
von Schleiern umschlossen der Tag
kein Duchblick mehr kein Halt
auf leisen Füßen
schleichen sich Stunden voran
zu lösen aus Nebeln den Tag



Erntedank

als Dank
für die Geduld des Himmels
dass nicht aufhört Frost und Hitze
Sonne Wind und Regen
dass noch Zeit bleibt für bessere Früchte
auf der bedrohten Erde

Erntedank
als Dank
für die Fähigkeit
zu Einsicht und Umkehr
als Dank
für geschenktes Leben
das auf Ernte drängt
immer neu und voll Verheißung






Eisregen

als der Eisregen kam
floh ich unter ein Dach
schlug Feuer
aus meinen Gedanken
mit warmer Stirn
zu trotzen der Kälte



Freunde finden

ein Haus finden
zu wohnen
hinter Tausendklang
im Einklang

Freunde finden
zu zünden in
der Kälte
ein Feuer

Töne finden
zu singen
gegen die Leere
ein Lied



Wintermorgen

Schau
in Flocken löst der Himmel
sich lautlos auf
schneeweiße Schleier
umhüllen die Welt
das Wunder wohnt tief
unter den Träumen

Warte nicht
fang an
schau dich nicht um
fang an
schreib deine Schrift
in den Schnee



Schneetanz

Wenn wintertags
der Schneetanz beginnt
nimmt er dich mit
ins weiße Vergessen
kopfüber taumelst du
mit den Flocken ins Nichts
dich neu aufzuspüren
im Scheeweiß


Trau den Spuren

draußen im Schnee
den allerersten
die dich hinausführen
über das Glück des Anfangs
in das Glück des Gelingens


Bau dir ein Haus

bau dir ein Haus
fest für den Rücken
das dich stärkt
im aufrechten Gang

bau dir ein Haus
tragbar für die Tasche
das dich begleitet
quer durch die Zeit

bau dir ein Haus
verborgen im Herzen
das dich wärmt
im winterlichen Frost

bau dir ein Haus
hell hinter den Gedanken
das dir leuchtet
zu nächtlicher Stund
Musik



Weihnachten

Unser Weg in die Zukunft
Fußmarsch am Grat
Meter um Meter durch Nebel
wir schlagen ein Zelt auf
und hauchen Leben
warm gegen den Wind
bedenken die Stätten
die längst schon begangen sind
weit zurück
bis zur Hütte zum Kind
und wagen neu
gegen die Kälte zu gehen



Weihnachtswunsch

wach zu werden
wie die Weisen
hellhörig wie die Hirten
bewegt wie Josef
wissend wie Maria
Gefährten zu finden mit
Flügeln



Ich ahne

Menschenmögliches
zwischen Menschen
aller Rassen und Nationen
zwischen Menschen aller Generationen
zwischen Mann und Frau
ich ahne Menschenmögliches
im Unmöglichen
Menschenunmögliches als Mögliches
unter dem Zuruf des Himmels



Jahresabschied

im Dämmer
über hingeduckten Häusern
ein magerer Mond über dem Meer
am letzten Tag des Jahres

allein dem Menschen möglich
das Zugehen auf Zukunft
von Jahr zu Jahr
von Neumond zu Neumond

zu neuem Ziel



Neujahr

unter Wellenrauschen
in ein neues Jahr

wir flüchtigen Wesen
verrauschender Zeit

hingeworfen
ans nackte Ufer

festzuhalten den Tag
fortzuschreiben den Weg






Zum Abschluss der Lesung:

Verfügungen für 12 Monate
aufgefangen von Thiago de Mello
(ein brasilianischer Lyriker und Musiker)



Januar:
Es wird verfügt, dass Geld niemals die Sonne des kommenden Morgens kaufen kann, und dass jeder Mensch sich an den Tisch setzen kann mit ungetrübtem Blick...


Februar:
Es wird verfügt, dass jetzt die Wahrheit zählt, dass jetzt das Leben zählt, und dass wir alle Hand in Hand
für das wahre Leben eintreten.


März:
Es wird verfügt, dass es jedem Menschen erlaubt ist, sich in jeder Stunde seines Lebens weiß zu kleiden.


April:
Unwiderruflich wird die ewige Herrschaft der Gerechtigkeit und des Lichtes ausgerufen!


Mai:
Es wird verfügt, dass alle Fenster den ganzen Tag dem Grünen geöffnet bleiben, wo die Hoffnung wächst!


Juni:
Es wird verfügt, dass das tägliche Brot immer den warmen Geschmack der Zärtlichkeit haben soll!


Juli:
Es wird verfügt, zu wissen, dass es das Wasser ist, das der Pflanze das Wunder der Blume gibt!


August:
Es wird erlaubt sein, am Nachmittag mit einer riesengroßen Begonie im Knopfloch spazieren zu gehen! Nur eines wird verboten sein:
zu lieben ohne Liebe.


September:
Es wird verfügt, daß von nun an in allen Fenstern Sonnenblumen stehen.


Oktober:
Es wird verfügt, dass der Mensch niemals mehr am Menschen zweifeln muß, dass der Mensch dem Menschen vertrauen kann wie die Palme dem Wind!...


November:
Es wird verfügt, dass Menschen frei vom Joch der Lüge sind. Niemals wird es nötig sein, sich zum Schutze in Schweigen zu hüllen!


Dezember:
Für ein Jahrtausend wird das von dem Propheten Jesaja erträumte Leben festgesetzt: Der Wolf und das Lamm werden gemeinsam weiden, und die Nahrung beider wird nach Morgenröte schmecken.

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Lesung 2001   Northeim

Ein Jahr im Spiegel von Gedichten

Lesung am 29.12.01

Schritte durch ein Jahr

 

der eine kriecht-

der andere schreitet-

einer wankt-

ein nächster gleitet-

der fünfte trippelt-

der sechste stelzt-

ein siebter

durch die Welt sich wälzt-

 

der achte fliegt ganz

federleicht vondannen

 

bedenke dies und sag dir leise:

ein jeder Mensch

auf seine Weise

kommt schließlich doch

zum Ziel der Reise

  

Wie Hügel

 

springen die Feste

aus der Landschaft des Lebens

hochgewehte Freude aus den Tiefen der Täler

du hältst den Atem an zwischen gestern und

morgen und deine Hände greifen nach Licht

und tragen es talwärts als Tuch

über die Tische der Trauer

 

Wintermorgen

 

Schau

in Flocken löst der Himmel

sich lautlos auf

Schneeschleier

umhüllen die Welt

das Wunder wohnt tief

unter den Träumen

 

Bilanz

 

du ziehst Bilanz

nimmst wahr

was gewesen

ziehst zusammen

was zerstreut

deutest Dinge

aus der Distanz

 

du ziehst Bilanz

suchst Klarheit

im Ungeklärten

malst Konturen

ins Schleierhafte

hältst Heilloses

hilflos in Händen

 

du wagst den Versuch

der Versuche

Unversöhntes

zu unterzeichnen

im Licht von Versöhnung

 

 

Psalm zur Jahreswende

 

Du - das Meer dahin die Flüsse fließen

Du - der Horizont dahin die Jahre ziehen

Du - der Abend dahin die Stunden fliehen

Du - der Morgen dahin die Träume drängen

von einer Welt in der Dein Gesicht

sich widerspiegelt im Gesicht des Menschen

 

 

Unterwegs

 

es gibt kein Zuhause

in Nischen

es treibt dich ein Sturm

heraus und voran

zu irren zwischen

Irrtum und Einsicht

zu suchen im Unterwegs

ein Zuhause

 

 

 

 

Frühling

 

nah am Tor

noch entblättert

die Trauerbirke

zurückgedrängte Kraft

in zitternden Zweigen

zurückgedrängtes Feuer

im stummen Stamm

 

es wird ein Gesang

besiegen den Frost

es wird ein Gestirn

entfachen ein Feuer

in Stamm und Geäst

es wird ein Frühling

vertreiben die Trauer

 

 

So viele Lenze

 

und wieder Saft

in den Zweigen

 

den Taktstock

des Frühlings

 

leih ich mir

für ein neues Lied

 

 

 

 

Ostern

 

Und plötzlich

wälzt dir ein Engel

den Stein von der Gottfinsterferne


 

Es wird Zeit

 

Wie lange wir schon stehen

am offenen Grab

voll Trauer voll Staunen

hinter dem Stein

es wird Zeit für uns

mit aufzubrechen

aus dem Tod ins Leben

  

 

Rosenzeit

 

zur Feier des Tages

eine Rose für dich

dass Freude

sich unverloren verliert

in farbenberedte

Sprachlosigkeit

  

 

Entfaltete Flügel

 

was bleibt von alledem

vom Gesang des Sommers

vom tete a tete des Glücks

von den Farben der Freundschaft

vom Tag-Traum und Nacht-Gespinst

von den Schüben des Schicksals

nichts bleibt im Verbleiben am Fleck

alles bleibt in der Kraft entfalteter Flügel


Jahresabschied



im Dämmer
über hingeduckten Häusern

ein magerer Mond über dem Meer

am letzten Tag des Jahres


allein dem Menschen möglich

das Zugehen auf Zukunft

von Jahr zu Jahr

von Neumond zu Neumond

zu neuem Ziel






Eisregen

als der Eisregen kam

floh ich unter ein Dach

schlug Feuer
aus meinen Gedanken

mit warmer Stirn
zu trotzen der Kälte






Neujah

r

unter Wellenrauschen 
in ein neues Jahr
wir flüchtigen Wesen
 verrauschender Zeit


hingeworfen
ans nackte Ufer


festzuhalten den Tag

fortzuschreiben den Weg







Bau dir ein Haus



bau dir ein Haus

fest für den Rücken

das dich stärkt
im aufrechten Gang


bau dir ein Haus

tragbar für die Tasche

das dich begleitet
quer durch die Zeit


bau dir ein Haus

verborgen im Herzen

das dich wärmt 
im winterlichen Frost


bau dir ein Haus

hell hinter den Gedanken

das dir leuchtet
zu nächtlicher Stund






Frühlingstag


Und wieder 
der Vogel Mut

auf deiner Schulter

mit seinem jungen Lied
wo wohnen
 die guten Geister

die dir helfen
 aufzustehen







Gestern
 


habe ich kühn meine Kraft 

dem Frühling versprochen

einen kargen Boden
 aufzukrusten

spatenstichtief 
Träume einzusäen

unter der Oberfläche

verhärteter Furchen







Himmelfahrt


Möcht den Himmel gewinnen

wie Du ihn gewonnen

im Wagnis der Liebe







Morgen im Mai



du bist dabei

wenn der Morgen im Mai
mit dem ersten Möwenschrei
geboren wird


du bist dabei

wenn der Morgen im Mai

so leichtfüßig frei

am Horizont steht


du bist dabei

wenn der Morgen im Mai

so sorglos frei

über die Erde zieht






Sommer


den Sommer 
anwachsen lassen

über der Stirn


was brach liegt
zum Blühen bringen

in neuem Licht


vielleicht möcht 
ein einziges Wort

auferstehen

 zum Leben

unter dem Himmel
 dem einzigen



Noch ist Sommertag 


und offen der Himmel

die Luft voller Samen

und süßem Duft

in den Feldern der Mohn

in den Gärten Margriten

am Steilhang
 zwischen Moos

mein kleines Gedicht


noch ist Sommertag

und offen der Himmel
es dreht sich der Drachen

lautlos im Wind
d
er Surfer spannt den Flügel

zum Flug über Fluten

am Spinnennetz spinnt

mein kleines Gedicht


noch ist Sommertag

und offen der Himmel

es atmet die Erde

ganz arglos im Traum

was tun- wenn durch Menschen

Zerstörung einbricht

schon wachsen Taubenflüg

meinem kleinen Gedicht

  

2. Teil

Wandel der Jahreszeiten

 

immer ein Stück

sich selbst vorau sein

auf den Wegen voran

Wandlungen begegnen

wie Freunden

Veränderungen begrüßen

wie den Wandel der Jahreszeiten

dem Rhythmus

dem Kreis nachspüren

dem Lauf der Flüsse ins Meer

 

 

Der Sommer geht hin

 

nichts ist mehr zu halten

der Sommer geht hin

Wolken schwärzen den Himmel

der Wein an den Wänden vergilbt

was unter der Sonne wuchs

hat ein Sturm zerrissen

hinter den Türen lauert der Frost

Gedanken schrumpfen zu Chips

warme Worte sind nicht mehr vorrätig

es bleibt dir der Regenbogen dich festzuhalten

 

 

 

 

Etwas gegen den Wind setzen

 

etwas Helles gegen die Nacht

etwas Festes gegen den Schwindel

etwas Klingendes gegen doie Leere

 

einen Traum gegen den Tag

eine Insel gegen den Lärm

einer Rose gegen den Winter

 

ein Tun gegen das Chaos

ein Gedicht gegen dioe Sprachlosigkeit

Gebete gegen den Stumpfsinn

 

etwas gegen den Wind setzen

 

 

Herbst

Nebelschwaden

über der Welt

ich such im Windlicht

meinen Weg

hab noch Sand

in Hosentaschen

hab ein Lied

das weiterträgt

 

  

Freunde finden

 

ein Haus finden

zu wohnen

hinter Tausendklang

im Einklang

 

Freunde finden

zu zünden in

der Kälte

ein Feuer

 

Töne finden

zu singen

gegen die Leere

ein Lied

 

 

Sonnenblume

 

ich möcht

mit deiner Sprache sprechen

 

ich möcht

mit deinem Blühen blühn

 

ich möcht

mit deinem Lachen lächeln

 

ich möcht

mit deiner Farbe färben

 

trüber Tage Nebelkleid

Erntedank

 

als Dank für die Geduld des Himmels

daß nicht aufhört Frost und Hitze

Sonne Wind und Regen

daß noch Zeit bleibt für bessere Früchte

auf der bedrohten Erde

Erntedank

als Dank für die Fähigkeit

zu Einsicht und Umkehr

als Dank für geschenktes Leben

das auf Ernte drängt

immer neu und voll Verheißung


Das Unfassbare

 

es wächst die Trauer

über das unfassbar Mögliche

über Menschenwerke

monströser Vernichtung

rund um die Erde

 

es wächst die Fantasie der Furchtlosen

die Solidarität der Träumer

die Freundschaft der Friedfertigen

des Bruders Hüter zu sein

rund um die Erde

 

 

Ich ahne

 

Menschenmögliches

zwischen Menschen aller Rassen und Nationen zwischen Menschen aller Generationen

zwischen Mann und Frau

Ich ahne Menschenmögliches

im Unmöglichen

Menschenunmögliches als Mögliches

unter dem Zuruf des Himmels

 

 

Weihnachten

 

Unser Weg in die Zukunft

Fußmarsch am Grat

Meter um Meter durch Nebel

wir schlagen ein Zelt auf

und hauchen Leben

warm gegen den Wind

bedenken die Stätten

die längst schon begangen sind

weit zurück bis zur Hütte zum Kind

und wagen neu gegen die Kälte zu gehen

 

 

 

 

Weihnachtswunsch

 

wach zu bleiben

wie die Weisen

hellhörig wie die Hirten

bewegt wie Josef

wissend wie Maria

Gefährten zu finden mit Flügeln

 

 

 

 

Abschied von Weihnachten:

 

vorbei der Traum

 

der Baum steht müde

mitten in dem Raum

 

zu Tränen werden Kugeln

gläserngroße Tropfen

 

Lamettasträhnen

hängen wirr umher

 

und die Sterne rund

um abgebrannte Kerzen

haben keine Leuchtkraft mehr

 

vorbei der Traum

wir räumen den Baum

 

träumen wieder und wieder

den Weihnachts - Traum

 

 

Verfügungen für 12 Monate

angelehnt an Thiago de Mello

Januar:

Es wird verfügt, dass Geld niemals die Sonne des kommenden Morgens kaufen kann, und dass jeder Mensch sich an den Tisch setzen kann mit ungetrübtem Blick...

 

 

 

Februar:

Es wird verfügt, dass jetzt die Wahrheit zählt, dass jetzt das Leben zählt, und dass wir alle Hand in Hand

für das wahre Leben eintreten.

 

 

März:

Es wird verfügt, dass es jedem Menschen erlaubt ist, sich in jeder Stunde seines Lebens weiß zu kleiden.

 

 

April:

Unwiderruflich wird die ewige Herrschaft der Gerechtigkeit und des Lichtes ausgerufen!

 

 

 

Mai:

Es wird verfügt, dass alle Fenster den ganzen Tag dem Grünen geöffnet bleiben, wo die Hoffnung wächst!

 

 

 

Juni:

Es wird verfügt, dass das tägliche Brot immer den warmen Geschmack der Zärtlichkeit haben soll!

Juli:

Es wird verfügt, zu wissen, dass es das Wasser ist, das der Pflanze das Wunder der Blume gibt!

 

 

August:

Es wird erlaubt sein, am Nachmittag mit einer riesengroßen Begonie im Knopfloch spazieren zu gehen! Nur eines wird verboten sein:

zu lieben ohne Liebe.

 

 

September:

Es wird verfügt, daß von nun an in allen Fenstern Sonnenblumen stehen.

 

 

Oktober:

Es wird verfügt, dass der Mensch niemals mehr am Menschen zweifeln muß, dass der Mensch dem Menschen vertrauen kann wie die Palme dem Wind!...

 

 

November:

Es wird verfügt, dass Menschen frei vom Joch der Lüge sind. Niemals wird es nötig sein, sich zum Schutze in Schweigen zu hüllen!

 

 

Dezember:

Für ein Jahrtausend wird das von dem Propheten Jesaja erträumte Leben festgesetzt: Der Wolf und das Lamm werden gemeinsam weiden, und die Nahrung beider wird nach Morgenröte schmecken.